N. Burgermeister: Andrea Blunschi: Die Frau des Dorfarztes und der Wehrm

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Titel
Die Frau des Dorfarztes und der Wehrmachtoffizier. Eine Spurensuche.


Autor(en)
Blunschi, Andrea
Erschienen
Zürich 2010: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
223 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Nicole Burgermeister

Andrea Blunschis Buch «Die Frau des Dorfarztes und der Wehrmachtsoffizier» dokumentiert die umfangreiche Recherche einer Enkelin zur Geschichte ihrer Grossmutter und ihres Grossvaters, in deren beider Lebensgeschichte Frauenemanzipation, Weltkrieg und Nationalsozialismus verdichtet sind. Martina Bucher (1915–2003), die Frau eines angesehenen Dorfarztes im luzernischen Eschholzmatt, gibt im Juni 1945 kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges ihre privilegierte Position auf – für einen in der Schweiz internierten Wehrmachtsoldaten. Sie verlässt ihren Mann und die drei gemeinsamen Kinder und lässt sich binnen Monatsfrist scheiden, um mit ihrem deutschen Geliebten Karl Michel (1909–1980) zusammenzuleben. Ein veritabler Skandal im konservativen Entlebuch, und, ginge es nach dem betrogenen Ehemann, ebenso ein Fall für die Psychiatrie.

Einen Sommer lang hält diese unerhörte Liebe. Ein gemeinsames Kind wird geboren. Während Karl Michel seine Entlassung aus einem komfortablen Interniertenlager für ehemalige Wehrmachtsoffiziere im sankt-gallischen Weesen beantragt und mit den Behörden um einen dauerhaften Aufenthalt in der Schweiz feilscht, bringt Martina Bucher im Frühjahr 1946 eine uneheliche Tochter zur Welt, mit der sie schliesslich in ihr Elternhaus nach Eschholzmatt zurückkehrt. Im Dorf, wo noch immer ihr geschiedener Ehemann und die drei älteren Kinder leben, wird sie geächtet. Das Kind – Andrea Blunschis Mutter – wird ihr schliesslich mittels behördlicher Verfügung weggenommen und in einer Pflegefamilie untergebracht. Karl Michel verlässt auf Druck der Behörden, denen seine Vergangenheit als NSDAP-Mitglied, SS-Hauptscharführer und während des Zweiten Weltkrieges Ordonnanz-Offizier der deutschen Wehrmacht im Feldzug gegen die Sowjetunion suspekt war, die Schweiz. Sporadisch besucht er in den nachfolgenden Jahren zwar noch seine Tochter bei der Pflegefamilie, aus dem Leben Martinas hingegen scheint er verschwunden.

Die Geschichte der Frau des Dorfarztes und Geliebten des Wehrmachtoffiziers stösst auf grosses Interesse: Es handelt sich um das drittmeistverkaufte Buch des Chronos-Verlages überhaupt. Die erste Auflage von 5000 Exemplaren ist ausverkauft und eine zweite bereits gedruckt. Seit seinem Erscheinen wurde das Buch in zahlreichen lokalen und regionalen Blättern rezensiert, auch die Sendung «Kulturplatz» des Schweizer Fernsehens erwies mit einem Beitrag der Geschichte Martina Buchers ihre Reverenz. Die Autorin, Lehrerin für Bildnerisches Gestalten, also «fachfremd», wenn man so möchte, setzt sich expressis verbis «nicht als Historikerin, sondern als Enkelin» mit der Geschichte ihrer Familie auseinander. Auf der Suche nach Spuren ihrer Vorfahren erstellt Andrea Blunschi auf der Basis von Tagebucheinträgen ihrer Grossmutter und deren Ehemann Hugo Fischer, Erzählungen von Verwandten und Bekannten der Familie sowie Akten aus verschiedenen schweizerischen und deutschen Archiven eine spannend erzählte Collage, die ein vielschichtiges, durchaus ambivalentes Bild ihrer Grossmutter Martina Bucher wie auch ihres Grossvaters Karl Michel zeichnet.

Verkaufserfolg und Rezensionen lassen es vermuten – im erinnerungskulturellen Kontext trifft die Autorin gleich auf zwei Trendthemen: das Interesse für die eigene Familiengeschichte und (damit oftmals verknüpft) für die Zeit des Zweiten Weltkrieges und des Nationalsozialismus. Damit ist die junge Autorin in guter Gesellschaft: Phänomene wie die Hinwendung der Enkelinnen/Enkel zur Generation der Grosseltern sind in der jüngeren deutschen Literatur häufig zu beobachten und die «Wiederentdeckung der Familienbande» (Sigrid Weigel) ist ebenso Teil dieser Entwicklung wie eine ganze Anzahl Studien, welche die Nachwirkungen des Zweiten Weltkrieges und der Zeit des Nationalsozialismus in familiären Kontexten und/oder intergenerationelle Tradierungsprozesse erforschen.

In ihrem Forschungsinteresse widerspiegeln sich zentrale Fragestellungen gegenwärtiger Erinnerungskultur. Andrea Blunschi nähert sich mit ihrer Spurensuche dem, was in der Familie bislang beschwiegen wurde: das nonkonformistische Verhalten der Grossmutter, die Kindswegnahme, der deutsche Grossvater mit möglicherweise «dunkler» Vergangenheit. Die Autorin bringt mit ihrer intensiven und gründlichen Recherche nach der Vergangenheit des Grossvaters und dessen möglicher Verstrickung in nationalsozialistische Verbrechen zur Sprache, was auch 15 Jahre nach den geschichtspolitischen Debatten um die Rolle der Schweiz während Nationalsozialismus und Krieg wenig thematisiert ist: Nicht nur wirtschaftliche und politische Beziehungen bestanden während der Zeit des Nationalsozialismus zu Deutschland, sondern auch vielfältige familiäre und bekanntschaftliche Verbindungen.

Studien zu intergenerationellen Tradierungsprozessen in Familien, wie sie in verschiedenen Ländern durchgeführt wurden, zeigen, wie mögliche Verbindungen von Verwandten zur nationalsozialistischen Ideologie für die Angehörigen der Kinder- und Enkelinnen-/Enkelgeneration zu einem Problem werden können. Oft werden sie tabuisiert. «Opa war kein Nazi», brachte der Titel der bekannten Studie der Forschungsgruppe um Harald Welzer die Vorstellung vieler Angehörigen bezüglich ihrer Eltern und Grosseltern auf den Punkt. Schlägt Andrea Blunschi in ihrer Recherche eine andere Richtung ein? Sie will wissen, ob Opa ein Nazi war und überlässt das Urteilen ihren LeserInnen. Fragen allerdings, wie Andrea Blunschi sie an die Vergangenheit ihres Grossvaters Karl Michel stellt, werden an Martina Huber nicht gerichtet. Allfällige Affinitäten zum Weltbild des Geliebten, des Wehrmachtoffiziers, bleiben wenn, dann vage thematisiert. Dies mag an der Quellenlage liegen. Vielleicht spiegelt sich hier aber auch nur eine in Gesellschaft wie Forschung feststellbare Tendenz: Es sind vorab männliche Akteure in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, die auf ihre ideologische Gesinnung hin befragt werden. Ob Oma eine Nazi (-Sympathisantin) war, steht nicht zur Debatte.

Zitierweise:
Nicole Burgermeister, Nicole Peter: Andrea Blunschi: Die Frau des Dorfarztes und der Wehrmachtoffizier. Eine Spurensuche. Zürich, Chronos Verlag, 2010. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 61 Nr. 4, 2011, S. 494-496

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 61 Nr. 4, 2011, S. 494-496

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